Differenzierte Stimmungsmache gegen Menschen mit Migrationshintergrund in Görlitz
Dass Rassismus die mit Abstand größte Integrationsbarriere darstellt, zeigt sich nicht nur in der verbreiteten diskriminierenden Praxis der für geflüchtete Menschen zuständigen Behörden. Aktuelle Studien zeigen, dass bspw. schwarze Menschen in keinem anderen europäischen Land derart häufig von strukturellem und institutionellem Rassismus betroffen sind, wie in Deutschland. Rassifizierende Anschauungen, also Schlussfolgerungen über Menschen, die von ihrem ethnischen Hintergrund abgeleitet werden, sind in weiten Teilen der Gesellschaft verankert. Etwa das traurige Beispiel der Proteste gegen die Gemeinschaftsunterkunft in Hirschfelde haben vergangenes Jahr gezeigt, welches beachtliche und spontane Mobilisierungspotential in der Gesellschaft vorhanden ist, um vehement gegen Menschen mit Migrationshintergrund zu wettern. Wenngleich diese Mobilisierung oft eher kurzlebig ist, zeigt sich in ihr immer wieder, dass Rassismus in der allgemeinen Stimmung dominant werden kann. Politik, Verwaltung und die Zivilgesellschaft sind hier in besonderem Maß in der Verantwortung, diskriminierungssensibel zu kommunizieren und zu agieren, wenn nicht gar diesen Verhältnissen Abhilfe zu leisten.
Vor diesem Hintergrund blicken wir auch auf den Umgang mit der Gewalt in und am Görlitzer Club L2 in der Nacht des 8. Juli 2023 zurück. Exemplarisch betrachten wir die damalige Stimmung in der östlichsten Stadt Deutschlands. Unserer Einschätzung nach haben nicht zuletzt öffentliche Äußerungen politischer Mandats-, Amts- und Würdenträger ein notwendiges Maß an Reflexion und Zurückhaltung vermissen lassen. Indem sie Herkunft, Zugehörigkeit in unzulässiger und unnötiger Weise mit dem Vorwurf der Straffälligkeit verbanden, befeuerten führende Politiker rassistische Stimmungen in der Bevölkerung. Eine öffentliche Reaktion blieb zwar nicht gänzlich aus, vermochte die Stimmung aber nur bedingt zu dämpfen – vor allem weil sie wenig Unterstützung in der breiten Öffentlichkeit fand.
Was ist passiert: Wenige Stunden nach dem Vorfall am Görlitzer Club Zwei Linden wurde über den Social-Media-Auftritt der neo-nazistischen und extrem rechten Splitterpartei „Freie Sachsen“ ein Video von einer Auseinandersetzung im Eingangsbereich des Lokals veröffentlicht, bei der Menschen mit Migrationshintergrund beteiligt gewesen seien. Allein der Kontext der Veröffentlichung hätte – ein Interesse an Differenzierung vorausgesetzt – aufhorchen lassen müssen. Stattdessen bleibt der Eindruck zurück, dass einzelne Politiker auf diesen Zug einer pauschalen Verurteilung von migrantisch gelesenen Personen regelrecht aufgesprungen sind. So dauerte es nicht lang, bis die allgemeine Verknüpfung von Straftaten und Entscheidung über Aufenthaltsrechte in aller Munde war.
Der oberste Lokalpolitiker der Stadt Görlitz zögerte bspw. nicht und erklärte bereits wenige Stunden nach dem Vorfall, dass die mutmaßlichen Täter, sofern sie nicht im Besitz einer deutschen Staatsbürgerschaft wären, „ihr Gastrecht bei uns verwirkt“ hätten. Florian Oest, junger Parteifreund des Görlitzer OB, traf zunächst mit seiner Kritik an „jungen Männern“, die sich „zusammenrotten und andere bedrohen oder verletzen“ den Nagel auf den Kopf. Allerdings wurde die Zielgenauigkeit seiner Aussage von ihm sogleich relativiert, indem er anschließend auf die Notwendigkeit der Klärung der Herkunft der vermeintlichen Täter pochte. Warum denn? Wiederum Michael Kretschmer steckte zwischen Mitleid für die, „die anständig hier leben“ und einer artikulierten Ablehnung der Täter, die auch seiner Meinung nach – sofern sie Asyl beantragt hätten – „ihr Recht auf Asyl verloren“ haben würden. Da die drei CDU-Politiker die verhetzenden Implikationen ihrer Äußerungen mindestens erahnt haben müssen, warnten sie zugleich vor Vorverurteilungen und Pauschalisierungen, verwiesen dabei aber betont von sich weg auf die sogenannte Alternative für Deutschland. Deren Görlitzer Wortführer Sebastian Wippel sprach direkt von „Migrantengewalt“. Rechte Diskursverschiebung feierte damit ihren nächsten Punktsieg.
Dass es auch anders ging, zeigte etwa der Vorsitzende der Jungen Union Johann Wagner, der die Gewalt in demonstrativer Absehung von Herkunft und Zugehörigkeit verurteilte. Oder auch die Stadträte der Wählervereinigung Motor Görlitz, die die Verquickung von Migrationshintergrund und strafbaren Handlungen dekonstruierten und einen authentischen Aufruf zu „Besonnenheit“ vernehmen ließen. Seltene und leise Stimmen der Vernunft, die im Rausch populistischer Empörung vergeblich einen Resonanzraum suchen.
Es kam trotzdem, wie es kommen musste und die ausländerfeindliche Stimmung konnte nicht mehr gedämpft werden. Mitarbeitende eines Friseursalons, einer Pizzeria sowie Mitglieder einer kleinen syrischen Gemeinde sahen sich genötigt, öffentlich Rechenschaft abzulegen sowie eine betonte Distanzierung von den Gewalttätern vorzunehmen. Der Inhaber eines Friseursalons sah sich auf Grund des auf ihn ausgeübten Drucks sogar gezwungen, einen seiner Mitarbeiter umgehend nach der Tatnacht zu entlassen, weil dessen Tatbeteiligung zwar nicht erwiesen, jedoch angenommen wurde. Kein öffentlicher Aufschrei war hingegen zu vernehmen, als sich wenige Tage später ein Überfall auf jenen Pizzalieferanten ereignete, bei dem ein weiterer mutmaßlich Tatbeteiligter beschäftigt war.
Öffentlich bekannte sich dann auch noch Diakon Torsten Schoenfelder, der die betroffene Disko aus seiner Jugend in den 1990er Jahren kennt, jedoch an dem Abend im Juli 2023 weder vor Ort noch anderweit beteiligt war, selbst in seiner Jugend rassistische Gewalt ausgeübt zu haben. Sein romantisches Schwelgen in Erinnerungen an die Gewalt der Nachwendezeit verleitete ihn zu der steilen These, in früheren Zeiten wäre der Einsatz von Glasflaschen als Angriffswaffe undenkbar gewesen. Das ist nichts Anderes als Geschichtsklitterung. Wer die 1990er Jahre (auch als Baseballschläger- oder Springerstiefel-Jahre bezeichnet) mit ihren zahlreichen Todesopfern durch völlig enthemmte rechte Gewalt und damit die maßlose Stumpfheit, mit der Menschen angegriffen wurden (Brandsätze, Baseballschläger, Autos (!), große Gruppen gegen Einzelne) derart banalisiert und damit gleichzeitig den Vorfall vor dem L2 problematisiert, tut dem demokratischen Miteinander definitiv keinen Gefallen.
Dabei ähnelte der Vorfall aus dem letzten Sommer in so vielerlei Hinsicht den rassistischen Gewaltexzessen der DDR und der Nachwendezeit. Die Ermittlungen ergaben nämlich, dass Gäste des L2, die sich in ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland besonders wichtig nahmen, wohl bedroht von Menschen sahen, denen sie die gleichberechtigte Teilhabe an Leben und Lieben in unserer Gesellschaft nicht zugestehen wollten. Gegenüber den „Aggressoren“, wie der Sprecher der hiesigen Staatsanwaltschaft die in Verdacht geratenen bisher nur potentiellen deutschen Staatsbürger ganz ungebrochen bezeichnete, soll sich eine Person, die damals gerade Polizeianwärter war, „alles andere als mäßigend“ verhalten und sogar „gezielt eskaliert haben“. Den jungen Deutschen wusste man entsprechend sanft zu behandeln – er wurde zunächst lediglich versetzt. Über ein Mitglied des Görlitzer Stadtrates, das möglicherweise ebenfalls beteiligt gewesen sein soll, hält man nach wie vor die schützende Hand des Verschweigens.
Tatsächlich ist der konkrete Fall tatbeteiligter Personen mit Migrationshintergrund, sofern sie noch im Verfahren um den Erwerb einer Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland sind, immer ein anderer, als der jener Menschen, die bereits die Staatsbürgerschaft innehaben. Das Aufenthaltsrecht sieht ganz ohne jedes politische Zutun von Repräsentant*innen des Deutschen Volkes – übrigens in all seiner auch ethnischen Diversität – ein Ausweisungsinteresse vor, sofern eine Person ohne Staatsbürgerschaft eine Straftat begeht. Darüber zu befinden ist jedoch allein Sache der Gerichte und die Umsetzung entsprechender Urteile obliegt vor allem den Polizeibehörden. Markige Verlautbarungen und überzogene Forderungen aus dem Munde der Repräsentant*innen unseres Staates, die das Aufenthaltsrecht von mutmaßlichen Straftätern von vornherein demonstrativ zur Disposition stellen, befeuern also völlig anlasslos Erregungszustände in der Bevölkerung, in denen ganz offen rassistische Anschauungen dominant sind.
Im Zusammenhang mit der Berichterstattung zum Vorfall in Görlitz zeigt sich auch sehr deutlich, warum es so seltsam ist, die Angaben zur Herkunft von potentiell straffällig gewordenen Menschen mit völliger Selbstverständlichkeit herauszugeben. Im Fall von „Deutschen“ wolle man keine konkreten Angaben zu den Tätern machen. In einer Stadtgesellschaft, in der Menschen mit familiären Wurzeln in Syrien oder der Türkei einen Anteil von 0,1% darstellen, ist der Hinweis auf diese Herkunft mutmaßlicher Täter ein sehr konkreter – zumal, wenn er auf ein rassistisches Ressentiment in der Bevölkerung stößt. Was hier wahrnehmbar wird, sind die Konturen einer wenig besprochenen aber tatsächlich existierenden Spaltung der Gesellschaft in ein Wir, dessen Homogenität reine Ideologie ist und ein diffuses sowie stigmatisiertes die Anderen, das mit Projektionen belegt wird.
In der Rhetorik der Migrationskritiker*innen bis -gegner*innen schreibt sich ein Homogenitätsgedanke fort, dem die Gesellschaft der Bundesrepublik in ihrer Geschichte nur in wenigen Jahren nach der gewaltvollen Neuordnung Europas durch die Nazis und durch entsprechende Bevölkerungspolitik in der Nachzeit des Zweiten Weltkrieges annähernd entsprochen hat. Hoheit über die Zuwanderung hat die deutsche Regierung seit den frühen 1950er Jahren und diese zunächst eher restriktiv gehandhabt. Debatten über die Einwanderung und Integration werden in der Bundesrepublik seit der Liberalisierung des Asylgesetzes in den 1970er Jahren verschärft geführt. Kaum bewusst scheint dabei, dass sich die Forderung nach Beschränkung der Zuwanderung vor allem gegen spezifische Gruppen von Menschen mit bestimmter Herkunft gerichtet hat. Hunderttausende Spätaussiedler*innen, die in den 1980er Jahren einwanderten, waren wie die Kontingentflüchtlinge der 1990er Jahre politisch gewollt und kaum Anlass für Konflikte. Zum Zeitpunkt des Verbleibs vieler „Gastarbeiter*innen“ in der Bundesrepublik drohte allerdings ab Anfang der 1980er Jahre die Stimmung zu kippen. In Deutschland nach dem Ende der DDR verbliebene Vertragsarbeiter*innen wurden ebenfalls zur Zielscheibe von grassierendem Rassismus. Beide Tendenzen verstärkten sich nach der Wiedervereinigung in einer massiven Welle von Gewalt und (Brand-)Anschlägen auf Menschen mit Migrationshintergrund.
Anfang der 1990er Jahre brannten vielerorts Unterkünfte von Menschen mit Fluchtbiographien. Dieser Exzess wurde seitens der damaligen Bundesregierung zirkulär zur Begründung des sogenannten Asylkompromiss herangezogen. Tatsächlich gewannen aber insbesondere im Anschluss daran völkisch-nationalistische Parteien wie die DVU und NPD erheblich an Zustimmung. Und erst in der Folge radikalisierten sich junge Neo-Nazis wie der NSU, weil diese sich durch die Politik in ihrer Ablehnung bestätigt sahen.
Halten wir also fest: Heute wie damals stärkt Politik, die dem Volk nach dem Mund redet und um rechte Stimmen buhlt, rassistische Stimmung in der Gesellschaft, indem sie Abgrenzung und Ablehnung von Menschen mit Migrationshintergrund und/oder Fluchtbiographie normalisiert. Dessen muss sich Politik bewusst sein und entsprechende Diskriminierungssensibilität aneignen. Solang sie das nicht tut, muss eine Zivilgesellschaft Einspruch erheben und eine rassismuskritische Gegenöffentlichkeit schaffen.