Demokratie. Toleranz. Menschenrechte.

Die Demokratie AG Ostsachsen ist ein Netzwerk freier Träger, 
die durch präventive Arbeitsweise 
Demokratiebildung, Beteiligung und Engagement in Ostsachsen fördern.

08. November 2024

Statement grenzwertig desintegrativ 2

Differenzierte Stimmungsmache gegen Menschen mit Migrationshintergrund in Görlitz

Dass Rassismus die mit Abstand größte Integrationsbarriere darstellt, zeigt sich nicht nur in der verbreiteten diskriminierenden Praxis der für geflüchtete Menschen zuständigen Behörden. Aktuelle Studien zeigen, dass bspw. schwarze Menschen in keinem anderen europäischen Land derart häufig von strukturellem und institutionellem Rassismus betroffen sind, wie in Deutschland. Rassifizierende Anschauungen, also Schlussfolgerungen über Menschen, die von ihrem ethnischen Hintergrund abgeleitet werden, sind in weiten Teilen der Gesellschaft verankert. Etwa das traurige Beispiel der Proteste gegen die Gemeinschaftsunterkunft in Hirschfelde haben vergangenes Jahr gezeigt, welches beachtliche und spontane Mobilisierungspotential in der Gesellschaft vorhanden ist, um vehement gegen Menschen mit Migrationshintergrund zu wettern. Wenngleich diese Mobilisierung oft eher kurzlebig ist, zeigt sich in ihr immer wieder, dass Rassismus in der allgemeinen Stimmung dominant werden kann. Politik, Verwaltung und die Zivilgesellschaft sind hier in besonderem Maß in der Verantwortung, diskriminierungssensibel zu kommunizieren und zu agieren, wenn nicht gar diesen Verhältnissen Abhilfe zu leisten.

Vor diesem Hintergrund blicken wir auch auf den Umgang mit der Gewalt in und am Görlitzer Club L2 in der Nacht des 8. Juli 2023 zurück. Exemplarisch betrachten wir die damalige Stimmung in der östlichsten Stadt Deutschlands. Unserer Einschätzung nach haben nicht zuletzt öffentliche Äußerungen politischer Mandats-, Amts- und Würdenträger ein notwendiges Maß an Reflexion und Zurückhaltung vermissen lassen. Indem sie Herkunft, Zugehörigkeit in unzulässiger und unnötiger Weise mit dem Vorwurf der Straffälligkeit verbanden, befeuerten führende Politiker rassistische Stimmungen in der Bevölkerung. Eine öffentliche Reaktion blieb zwar nicht gänzlich aus, vermochte die Stimmung aber nur bedingt zu dämpfen – vor allem weil sie wenig Unterstützung in der breiten Öffentlichkeit fand.

Was ist passiert: Wenige Stunden nach dem Vorfall am Görlitzer Club Zwei Linden wurde über den Social-Media-Auftritt der neo-nazistischen und extrem rechten Splitterpartei „Freie Sachsen“ ein Video von einer Auseinandersetzung im Eingangsbereich des Lokals veröffentlicht, bei der Menschen mit Migrationshintergrund beteiligt gewesen seien. Allein der Kontext der Veröffentlichung hätte – ein Interesse an Differenzierung vorausgesetzt – aufhorchen lassen müssen. Stattdessen bleibt der Eindruck zurück, dass einzelne Politiker auf diesen Zug einer pauschalen Verurteilung von migrantisch gelesenen Personen regelrecht aufgesprungen sind. So dauerte es nicht lang, bis die allgemeine Verknüpfung von Straftaten und Entscheidung über Aufenthaltsrechte in aller Munde war.

Der oberste Lokalpolitiker der Stadt Görlitz zögerte bspw. nicht und erklärte bereits wenige Stunden nach dem Vorfall, dass die mutmaßlichen Täter, sofern sie nicht im Besitz einer deutschen Staatsbürgerschaft wären, „ihr Gastrecht bei uns verwirkt“ hätten. Florian Oest, junger Parteifreund des Görlitzer OB, traf zunächst mit seiner Kritik an „jungen Männern“, die sich „zusammenrotten und andere bedrohen oder verletzen“ den Nagel auf den Kopf. Allerdings wurde die Zielgenauigkeit seiner Aussage von ihm sogleich relativiert, indem er anschließend auf die Notwendigkeit der Klärung der Herkunft der vermeintlichen Täter pochte. Warum denn? Wiederum Michael Kretschmer steckte zwischen Mitleid für die, „die anständig hier leben“ und einer artikulierten Ablehnung der Täter, die auch seiner Meinung nach – sofern sie Asyl beantragt hätten – „ihr Recht auf Asyl verloren“ haben würden. Da die drei CDU-Politiker die verhetzenden Implikationen ihrer Äußerungen mindestens erahnt haben müssen, warnten sie zugleich vor Vorverurteilungen und Pauschalisierungen, verwiesen dabei aber betont von sich weg auf die sogenannte Alternative für Deutschland. Deren Görlitzer Wortführer Sebastian Wippel sprach direkt von „Migrantengewalt“. Rechte Diskursverschiebung feierte damit ihren nächsten Punktsieg.

Dass es auch anders ging, zeigte etwa der Vorsitzende der Jungen Union Johann Wagner, der die Gewalt in demonstrativer Absehung von Herkunft und Zugehörigkeit verurteilte. Oder auch die Stadträte der Wählervereinigung Motor Görlitz, die die Verquickung von Migrationshintergrund und strafbaren Handlungen dekonstruierten und einen authentischen Aufruf zu „Besonnenheit“ vernehmen ließen. Seltene und leise Stimmen der Vernunft, die im Rausch populistischer Empörung vergeblich einen Resonanzraum suchen.

Es kam trotzdem, wie es kommen musste und die ausländerfeindliche Stimmung konnte nicht mehr gedämpft werden. Mitarbeitende eines Friseursalons, einer Pizzeria sowie Mitglieder einer kleinen syrischen Gemeinde sahen sich genötigt, öffentlich Rechenschaft abzulegen sowie eine betonte Distanzierung von den Gewalttätern vorzunehmen. Der Inhaber eines Friseursalons sah sich auf Grund des auf ihn ausgeübten Drucks sogar gezwungen, einen seiner Mitarbeiter umgehend nach der Tatnacht zu entlassen, weil dessen Tatbeteiligung zwar nicht erwiesen, jedoch angenommen wurde. Kein öffentlicher Aufschrei war hingegen zu vernehmen, als sich wenige Tage später ein Überfall auf jenen Pizzalieferanten ereignete, bei dem ein weiterer mutmaßlich Tatbeteiligter beschäftigt war.

Öffentlich bekannte sich dann auch noch Diakon Torsten Schoenfelder, der die betroffene Disko aus seiner Jugend in den 1990er Jahren kennt, jedoch an dem Abend im Juli 2023 weder vor Ort noch anderweit beteiligt war, selbst in seiner Jugend rassistische Gewalt ausgeübt zu haben. Sein romantisches Schwelgen in Erinnerungen an die Gewalt der Nachwendezeit verleitete ihn zu der steilen These, in früheren Zeiten wäre der Einsatz von Glasflaschen als Angriffswaffe undenkbar gewesen. Das ist nichts Anderes als Geschichtsklitterung. Wer die 1990er Jahre (auch als Baseballschläger- oder Springerstiefel-Jahre bezeichnet) mit ihren zahlreichen Todesopfern durch völlig enthemmte rechte Gewalt und damit die maßlose Stumpfheit, mit der Menschen angegriffen wurden (Brandsätze, Baseballschläger, Autos (!), große Gruppen gegen Einzelne) derart banalisiert und damit gleichzeitig den Vorfall vor dem L2 problematisiert, tut dem demokratischen Miteinander definitiv keinen Gefallen.

Dabei ähnelte der Vorfall aus dem letzten Sommer in so vielerlei Hinsicht den rassistischen Gewaltexzessen der DDR und der Nachwendezeit. Die Ermittlungen ergaben nämlich, dass Gäste des L2, die sich in ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland besonders wichtig nahmen, wohl bedroht von Menschen sahen, denen sie die gleichberechtigte Teilhabe an Leben und Lieben in unserer Gesellschaft nicht zugestehen wollten. Gegenüber den „Aggressoren“, wie der Sprecher der hiesigen Staatsanwaltschaft die in Verdacht geratenen bisher nur potentiellen deutschen Staatsbürger ganz ungebrochen bezeichnete, soll sich eine Person, die damals gerade Polizeianwärter war, „alles andere als mäßigend“ verhalten und sogar „gezielt eskaliert haben“. Den jungen Deutschen wusste man entsprechend sanft zu behandeln – er wurde zunächst lediglich versetzt. Über ein Mitglied des Görlitzer Stadtrates, das möglicherweise ebenfalls beteiligt gewesen sein soll, hält man nach wie vor die schützende Hand des Verschweigens.

Tatsächlich ist der konkrete Fall tatbeteiligter Personen mit Migrationshintergrund, sofern sie noch im Verfahren um den Erwerb einer Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland sind, immer ein anderer, als der jener Menschen, die bereits die Staatsbürgerschaft innehaben. Das Aufenthaltsrecht sieht ganz ohne jedes politische Zutun von Repräsentant*innen des Deutschen Volkes – übrigens in all seiner auch ethnischen Diversität – ein Ausweisungsinteresse vor, sofern eine Person ohne Staatsbürgerschaft eine Straftat begeht. Darüber zu befinden ist jedoch allein Sache der Gerichte und die Umsetzung entsprechender Urteile obliegt vor allem den Polizeibehörden. Markige Verlautbarungen und überzogene Forderungen aus dem Munde der Repräsentant*innen unseres Staates, die das Aufenthaltsrecht von mutmaßlichen Straftätern von vornherein demonstrativ zur Disposition stellen, befeuern also völlig anlasslos Erregungszustände in der Bevölkerung, in denen ganz offen rassistische Anschauungen dominant sind.

Im Zusammenhang mit der Berichterstattung zum Vorfall in Görlitz zeigt sich auch sehr deutlich, warum es so seltsam ist, die Angaben zur Herkunft von potentiell straffällig gewordenen Menschen mit völliger Selbstverständlichkeit herauszugeben. Im Fall von „Deutschen“ wolle man keine konkreten Angaben zu den Tätern machen. In einer Stadtgesellschaft, in der Menschen mit familiären Wurzeln in Syrien oder der Türkei einen Anteil von 0,1% darstellen, ist der Hinweis auf diese Herkunft mutmaßlicher Täter ein sehr konkreter – zumal, wenn er auf ein rassistisches Ressentiment in der Bevölkerung stößt. Was hier wahrnehmbar wird, sind die Konturen einer wenig besprochenen aber tatsächlich existierenden Spaltung der Gesellschaft in ein Wir, dessen Homogenität reine Ideologie ist und ein diffuses sowie stigmatisiertes die Anderen, das mit Projektionen belegt wird.

In der Rhetorik der Migrationskritiker*innen bis -gegner*innen schreibt sich ein Homogenitätsgedanke fort, dem die Gesellschaft der Bundesrepublik in ihrer Geschichte nur in wenigen Jahren nach der gewaltvollen Neuordnung Europas durch die Nazis und durch entsprechende Bevölkerungspolitik in der Nachzeit des Zweiten Weltkrieges annähernd entsprochen hat. Hoheit über die Zuwanderung hat die deutsche Regierung seit den frühen 1950er Jahren und diese zunächst eher restriktiv gehandhabt. Debatten über die Einwanderung und Integration werden in der Bundesrepublik seit der Liberalisierung des Asylgesetzes in den 1970er Jahren verschärft geführt. Kaum bewusst scheint dabei, dass sich die Forderung nach Beschränkung der Zuwanderung vor allem gegen spezifische Gruppen von Menschen mit bestimmter Herkunft gerichtet hat. Hunderttausende Spätaussiedler*innen, die in den 1980er Jahren einwanderten, waren wie die Kontingentflüchtlinge der 1990er Jahre politisch gewollt und kaum Anlass für Konflikte. Zum Zeitpunkt des Verbleibs vieler „Gastarbeiter*innen“ in der Bundesrepublik drohte allerdings ab Anfang der 1980er Jahre die Stimmung zu kippen. In Deutschland nach dem Ende der DDR verbliebene Vertragsarbeiter*innen wurden ebenfalls zur Zielscheibe von grassierendem Rassismus. Beide Tendenzen verstärkten sich nach der Wiedervereinigung in einer massiven Welle von Gewalt und (Brand-)Anschlägen auf Menschen mit Migrationshintergrund.

Anfang der 1990er Jahre brannten vielerorts Unterkünfte von Menschen mit Fluchtbiographien. Dieser Exzess wurde seitens der damaligen Bundesregierung zirkulär zur Begründung des sogenannten Asylkompromiss herangezogen. Tatsächlich gewannen aber insbesondere im Anschluss daran völkisch-nationalistische Parteien wie die DVU und NPD erheblich an Zustimmung. Und erst in der Folge radikalisierten sich junge Neo-Nazis wie der NSU, weil diese sich durch die Politik in ihrer Ablehnung bestätigt sahen.

Halten wir also fest: Heute wie damals stärkt Politik, die dem Volk nach dem Mund redet und um rechte Stimmen buhlt, rassistische Stimmung in der Gesellschaft, indem sie Abgrenzung und Ablehnung von Menschen mit Migrationshintergrund und/oder Fluchtbiographie normalisiert. Dessen muss sich Politik bewusst sein und entsprechende Diskriminierungssensibilität aneignen. Solang sie das nicht tut, muss eine Zivilgesellschaft Einspruch erheben und eine rassismuskritische Gegenöffentlichkeit schaffen.

09. Oktober 2024

Stimmen zum CSD in Görlitz und Zgorzelec

Am 28. September 2024 fand der dritte Christopher Street Day (CSD) in Görlitz und Zgorzelec statt. Er stand auch in diesem Jahr für Vielfalt, Toleranz und Gleichberechtigung. Trotz der positiven Atmosphäre und der zahlreichen Unterstützer*innen wurde die Veranstaltung durch teils bedrohlichen Gegenprotest überschattet, der eine angespannte Stimmung erzeugte.
Mehrere Träger sowie Einzelpersonen aus dem Umfeld der Demokratie AG Ostsachsen waren involviert und vor Ort. Wir möchten einige Stimmen und Eindrücke teilen. (Diese spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung aller Netzwerk-Mitglieder wider.)
Trotz mentaler Vorbereitung war ich schockiert über die Aggressivität des rechtsextremen Gegenprotestes, die uns entgegenschlug. Ich begreife nicht, warum zugelassen wurde, dass Menschen darunter Kinder die für gleiche Rechte, mehr Selbstbestimmung und Vielfalt auf die Straße gehen, so massive Bedrohungen erfahren mussten.
Mia, feministisches*forum
Teilnehmende berichteten mir von Pöbeleien, Bedrohungen und Geschubse im Anschluss des CSDs. Einige hatten Angst, nicht mehr sicher nach Hause zu kommen. Ich bin dankbar, dass sich so viele Menschen trotz der rechten Mobilisierung nicht entmutigen ließen und den CSD vor Ort unterstützten.
Jess, Beratungsstelle SUPPORT
Es ist einfach absurd: Wir setzen uns ein für eine Gesellschaft, in der alle Menschen frei und ohne Angst verschieden sein können – und darauf reagieren Nazis mit Todesdrohungen. Umso wichtiger ist es, dass viele ihre Stimme gegen diese menschenfeindlichen Ideologien und Bewegungen erheben.
Teilnehmerin des CSD
Fotos vom CSD in Görlitz und Zgorzelec

12. September 2024

Rückblick: Fachtag der Demokratie AG Ostsachsen

Am Samstag, 31. August 2024, fand unser Fachtag im Rahmen des Überland-Festivals am Kühlhaus in Görlitz statt. Unsere Veranstaltungen waren dabei Teil der Programmsäule des Festivals, die sich mit praktischer Demokratiearbeit in ländlichen Räumen beschäftigte. Erstmals hatten wir unser Demokratie-Zelt dabei – in dem wir ein vielfältiges und stetig wachsendes Angebot für Information, Austausch, Diskussion, Kennenlernen und mehr bieten.
Vortrag
Vortrag zu völkischen Siedler*innen
Der Workshop Partizipation ein Leben lang! Pädagogische Verantwortung für eine demokratische Gesellschaft, angeleitet von der diplomierten Sozialarbeiterin Eva Prausner, beschäftigte sich mit der Frage, wie Demokratiebildung bereits in den frühen Kinderjahren beginnen kann. Die Teilnehmenden setzten sich mit ihrer eigenen Verantwortung auseinander und diskutierten praktische Handlungsmöglichkeiten zur Förderung von Partizipation und demokratischen Werten in der Erziehung.

In der Podiumsdiskussion mit dem Titel Was Brandmauer? Worthülsen zur Rettung der Demokratie widmeten wir uns diesem aktuell viel diskutierten Schlagwort. Unsere Gäste Dirk Neubauer (Landrat Mittelsachsen), Thomas Zenker (Oberbürgermeister Zittau) und Kathrin Uhlemann (Oberbürgermeisterin Niesky) berichteten davon, wie Politik und Verwaltung in Zeiten des Erstarkens rechter Parteien die Gratwanderung zwischen dringender Abgrenzung und notwendiger Handlungsfähigkeit schaffen kann. Einig war man sich darüber, dass die Forderung nach einer Brandmauer insbesondere auf kommunalpolitischer Ebene fehl geht, weil sie unter den gegebenen politischen (Mehrheits-)Verhältnissen unerlässliche Sachpolitik unmöglich machen würde. Dennoch konnte keiner/m der drei Diskutant*innen der Vorwurf gemacht werden, sich parteipolitisch nicht entschieden genug gegen antidemokratische Kräfte und Tendenzen zu positionieren. Alle drei gaben ein je eigenes eindrucksvolles Beispiel davon, wie eine konsequente und zugleich pragmatische Haltung aussehen kann. Moderiert wurde die Debatte von Livia Knebel.

Der Workshop Zwischen Einvernehmen und Unvernehmen: Chancen und Grenzen demokratischen Dialogs mit Felix Pankonin von der Hillerschen Villa thematisierte die Dynamiken und Herausforderungen eines demokratischen Austauschs in polarisierten Zeiten. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie ein produktiver Austausch über stark emotional aufgeladene politische Themen gelingen kann, ohne dass der Dialog zum Selbstzweck verkommt oder einer Diskursverschiebung nach rechts Vorschub geleistet wird.

Dorothea Schneider vom Augen auf e.V. verschaffte den Zuhörenden unter dem Titel Völkische Siedler*innen – harmlose Nachbar*innen im Ökogewand? einen Überblick über völkische Strukturen in Ostsachsen. Unter dem vorgeblich ökologischen und traditionsbewussten Auftreten, kommen bei genauerem Hinsehen völkische und rechte Ideologie zutage. Deswegen ging es schließlich um die Frage, wie solche Akteur*innen und Strukturen erkannt und die eigenen Zusammenhänge gegen eine Unterwanderung geschützt werden können.

Das Demokratie-Zelt mit verschiedenen Angeboten

Neben den Veranstaltungen bot unser Demokratie-Zelt, das wesentlich mit dem A-Team des soziokulturellen Zentrums Rabryka gestaltet wurde, einen zentraler Anlaufpunkt. Die Besuchenden erwartete Informationsmaterial von verschiedenen Trägern unseres Netzwerks, sowie interaktive Elemente, die zum Dialog und Austausch anregten. Besonders gut angenommen wurde der Cocktailstand, der als lockere Gesprächsplattform diente. Die Ausstellung zu Rassismus-Erfahrungen von Migrant*innen in Sachsen zeigte die Herausforderungen auf, denen diese in ländlichen Regionen gegenüberstehen. Im Postamt für Demokratie konnten Menschen ihre Eindrücke und Botschaften kreativ auf Postkarten festhalten und sichtbar machen. Auch die mobile Bibliothek des Familientreff Kunterbunt ergänzte mit emanzipatorischen Kinderbüchern und diskriminierungssensibler Literatur unser Wohnzimmer der Demokratie.

Der Tag zeigte eindrücklich, wie vielfältig Engagement ist und sein kann und wie wichtig es ist, kontinuierlich und mutig für eine lebendige, offene und solidarische Gesellschaft einzutreten – gerade im ländlichen Raum. Die Eindrücke des Tages geben uns neue Impulse und Energie für unsere Arbeit.

23. Juni 2024

Statement zum Umgang mit Sommersonnenwendfeiern im Landkreis Görlitz

Mit großer Sorge stellen wir fest, dass unter den in diesem Jahr im Landkreis Görlitz veranstalteten Sommersonnenwendfeiern erneut einzelne den offenen Anschluss an völkische und nationalsozialistische Brauchtumspflege zelebriert haben. Besonders heraus gestochen ist in diesem Jahr eine Veranstaltung in Herrnhut im Ortsteil Strahwalde. Am Nachmittag und Abend des 22. Juni 2024 vollzog sich hier ein Ritual, bei dem der Stil, die Auswahl der Lieder und die Inhalte der sogenannten Feuersprüche einen eindeutigen Bezug zur Hitlerjugend (HJ) aufwiesen. Unter Begleitung von typischen Trommelschlägen zogen die auffallend zahlreich in weißen Hemden gekleideten jungen Männer  neben anderen Männern und Frauen in Trachten zum Holzstapel. Mit Fackeln vollzogen sie eine Zeremonie, in deren Ergebnis sie den Stapel entzündeten. Nachdem dies erfolgt war, stimmten sie unter anderem das Lied Nur der Freiheit gehört unser Leben an, das Hans Baumann 1935 eigens für die Hitlerjugend gedichtet hat. Anschließend sagten einzelne Teilnehmer*innen Feuersprüche auf, die die Anwesenden mit einem lautstarken „Heil Sonnenwende“ bejahten. Darunter Sprüche auf „die deutsche Jugend“. Einer rief, sie würden ihre „Leben der Ehre Deutschlands“ widmen und sie schworen „auf das Deutsche Volk und auf Deutschland“.

In einem der letzten Feuersprüche wurde dem „Löbauer SS-Standartenführer Max Wünsche“ gehuldigt. Wünsche war Nationalsozialist der ersten Stunde, Mitglied der HJ seit 1932, diente Adolf Hitler persönlich als Ordonanzoffizier und war im Zweiten Weltkrieg zuletzt verantwortlich für den Aufbau der 12. SS-Panzer-Division „Hitlerjugend“, in der massenhaft Hitlerjungen rekrutiert und unter seiner Kommandantur in den Krieg geschickt wurden. Im selben Atemzug ehrten die Teilnehmenden zugleich sämtliche Ritterkreuzträger, also Soldaten, die im Rahmen der nationalsozialistischen Kriegsführung für ihre Leistungen ausgezeichnet wurden. Unter den Anwesenden war auch der Militär-Historiker Peter Hild, der seit ein paar Jahren in Mittelherwigsdorf lebt und sich bestens mit den Ritterkreuzträgern auskennen dürfte. Seit den 1990er Jahren nahm er wiederholt an Treffen der „Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger e.V.“ teil. Auf seinem Facebookprofil ehrt er einzelne von ihnen zu gegebenen Anlässen. Dank des erfolgreichen Abschneidens seines Parteifreundes Harry Fröhlich erhielt auch Hild bei der Wahl zum Gemeinderat am 9. Juni 2024 auf der Liste der sogenannten Alternative für Deutschland einen Sitz im Gemeinderat vom Mittelherwigsdorf.

Nach dem Ritual singen die Teilnehmenden Lieder und hin und wieder ruft einer "Heil Sonnenwende", was die anderen ebenso im Chor beantworten. (C) Nils Lenthe

Die ganze Veranstaltung fand auf einem Grundstück statt, das aktuell von der Familie Dienel aus Herrnhut gepachtet wird und nach Aussagen eines Teilnehmers der Veranstaltung durch diese eigens dafür zur Verfügung gestellt wurde. Derselbe Zeuge behauptete zudem, dass die Familie selbst zu den Teilnehmenden gehört habe. Kristina Dienel wurde bei den jüngsten Kommunalwahlen für die Freien Sachsen in den Herrnhuter Stadtrat und den Kreistag des Landkreises Görlitz gewählt. Auf Facebook verteidigte die angehende Stadträtin die völkische Veranstaltung als harmlose Traditionspflege. Maßgeblicher Organisator scheint aber Stephan Jurisch (geb. Roth) aus Oybin gewesen zu sein – ein Informationsflyer, der an Anwohner*innen verteilt wurde, war von ihm unterschrieben. Jurisch war u.a. in der inzwischen verbotenen neo-nationalsozialistischen Heimattreuen Deutschen Jugend aktiv.

Am selben Abend fand wenige Kilometer entfernt auch in Niederorderwitz eine Sonnenwendfeier statt. Dort ist die Veranstaltung schon seit vielen Jahren etabliert. Das Verhältnis zur nationalsozialistischen Tradition ist hier eher durch unterlassene Distanzierung und Interpretationsspielräume bestimmt. Der Charakter der Feier ist vorgeblich stärker an heidnische Bräuche angelehnt. Dass aber zum Beispiel auch in diesem Jahr am Holzstapel eine Tiwaz-Rune prangte, die auch das Erkennungszeichen der Hitlerjugend, einer SS-Freiwilligendivision und als Abzeichen der SA-Reichsführerschulen verwendet wurde, ist zumindest erneut Anlass genauer hinzusehen. Nachdem es im vergangenen Jahr zum wiederholten Male eine öffentliche Auseinandersetzung über das Event in Niederoderwitz gab, wäre eine entsprechende Klarstellung und deutliche Distanzierung seitens des Veranstalters oder wenigstens mehr Aufmerksamkeit der Behörden zu erwarten gewesen – nichts dergleichen scheint der Fall zu sein.

Bei der im Ortsteil Niederoderwitz durchgeführten Sonnenwendfeier handelt es sich unserer Einschätzung nach um eine Brauchtumsfeier, die in ihren Elementen mindestens an völkisch-heidnische Rituale angelehnt ist. In der Gestaltung ähnelt sie wie auch jene in Herrnhut auffallend den Sonnenwendfeiern der 2023 verbotenen Artgemeinschaft, Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V.. Neben dem üblichen Balkenfeuer, dessen „gemeinschaftlicher Aufbau“ am ersten Tag stattfand und das in einem „heidnischen Ritual“ entzündet wurde, gehörte laut Veranstaltungsflyer auch die Errichtung eines Questenbaumes zum Programm. Entgegen der Behauptung eines Mitorganisators bei der Gemeinderatssitzung 2023, dass es sich hierbei um eine Privatveranstaltung im Kreis von Nachbar*innen und Freund*innen handele, bzw. es eine Veranstaltung für Oderwitzer*innen sei, wurden wohl gezielt gewisse Kreise angesprochen und ist die Feier in Oderwitz eher unbekannt. Die Einladungsflyer wurden nicht öffentlich ausgelegt, sondern gezielt verteilt und die Teilnehmenden gebeten sich im Vorfeld anzumelden. Laut Aussagen von Besucher*innen, kommen die Teilnehmenden u.a. auch aus der Schweiz, Ungarn und Österreich. Zudem wurde mit einem „Unkostenbeitrag“ eine Alternative zu Eintritt genommen.

Seit 2018 habe das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz die Veranstaltung im Blick. 2022 erregte die Feier durch Veröffentlichung eines Rechercheartikels das Aufsehen der Öffentlichkeit und führte zu Diskussionen über ihre Bewertung. Mitorganisator Raik Molitor habe laut Berichten der Sächsischen Zeitung ausgesagt, die Veranstalter*innen hätten sich „von einer politischen Bühne abgekapselt“. Genau für diese mutmaßliche Schutzbehauptung fehlt jedoch der Beweis. Stattdessen werden nun bereits seit vielen Jahren an besagtem Ort Sonnenwendfeiern unter Abkapselung von der Öffentlichkeit veranstaltet, die für neonazistische Politik Anschluss bieten. Symbole wie das nationalsozialistische Gegenstück zum Christenkreuz (Irminsul), das Symbol der verbotenen „Wiking Jugend“ (Odalrune) oder der Hitler-Jugend (Tiwarz- oder Tirrune) wurden über mehrere Jahre gesichtet und dokumentiert. Auch personell konnten in der Vergangenheit die Teilnahme von rechten bis neonazistischen Akteur*innen sowie die Mitwirkung einer Band wie „Waldtraene“, die mit dem Label „Asatru Klangwerke“ zusammenarbeitet, festgestellt werden.

Der verdichtete Eindruck einer unterlassenen Distanzierung von oder gar der offene Bezug zu völkischem Gedankengut und dessen Vertreter*innen veranlasste die Demokratie AG Ostsachsen, im vergangenen Jahr mit einem Aufklärungsflyer auf die Veranstaltung aufmerksam zu machen.  Dieser wurde in Oderwitz an sämtliche Haushalte verteilt. Antrieb war nicht zuletzt die Sorge, dass völkische Strukturen und Netzwerke in Ostsachsen unbehelligt ihre Aktivitäten und ihre Mitgliederzahlen ausbauen können. Ziel war es, die Bevölkerung von Oderwitz für eine Veranstaltung zu sensibilisieren, die sich entsprechend neurechter Strategien als Beitrag zum lokalen und regionalen Gemeinwesen inszeniert, deren Veranstalter*innen sich damit in der Gesellschaft etablieren wollen, um schließlich ihre politischen Anschauungen auf dem Pfad persönlicher Verbundenheit zu verbreiten. Der Flyer der Demokratie AG Ostsachsen war außerdem als Unterstützung kommunaler Politik gedacht, die sich in der Verantwortung sieht, mit einem Problem umzugehen, für das in der Bevölkerung nur wenig Bewusstsein besteht.

In der lokalen Presse wurde der Flyer in einer Weise aufgegriffen, die die darin angemeldeten Bedenken als überzogen oder gar unberechtigt erscheinen lässt. Dem Redakteur gab scheinbar weniger die Veranstaltung selbst, sondern vielmehr ein Zwischenfall mit Pressvertreter*innen Anlass einen Artikel zu verfassen. Auswärtigen Journalisten war durch Teilnehmer der Sonnenwendfeier Recherche für einen Bericht über die Veranstaltung untersagt worden. In dem Artikel, der am 25. Juni 2023 auf der Website der Sächsischen Zeitung publiziert wurde, wird die Darstellung der am Abend zur Konfrontation zwischen Veranstaltungsteilnehmern und Presse hinzugezogenen Polizei wiedergegeben. Dabei machte sich der Redakteur die Einschätzung zu eigen, dass die Überprüfung der Veranstaltung den „Verdacht auf Rechtsextremismus oder verbotene Symbolik“ nicht habe erhärten können und es sich stattdessen um eine „ganz normale Feier mit Wikinger- und Mittelalter-Touch“ gehandelt habe. 

So lautete auch die historisch eher zweifelhafte Erläuterung zum Charakter der Veranstaltung, die die Teilnehmer der abgewiesenen Presse auftischten. Das mythische Fundament rechter Ideologie wird damit als unpolitischer Freizeitspaß verharmlost. Die von rechten Strukturen und Akteuren kultivierte Verengung deutscher Traditionsbestände auf eine vom Christentum bereits im Frühmittelalter überlagerte, erst im Zusammenhang mit der nationalen Romantik des 19. Jahrhunderts wieder ausgegrabene und vergleichsweise unbedeutende germanische Wurzel, wird hier politisch instrumentalisiert und wäre insofern zu dekonstruieren. Es liegt der Verdacht nahe, dass sich die historisch und politisch unkundige Polizei diesen Germanen im Wikingerpelz hat aufbinden lassen. 

Unglücklicher Weise hat die Sächsische Zeitung es dann nur noch abgeschrieben. Zwar wird im Artikel die Diskussion über die Veranstaltung im Vorjahr erwähnt, jedoch inhaltlich nicht weiter gewürdigt. Angesichts der wesentlich differenzierteren Berichterstattung der Sächsischen Zeitung über die Veranstaltung im Jahr 2022 wäre hier eine ausreichende Grundlage für die adäquate Einordnung vorhanden gewesen. Es entsteht der Eindruck, als sei all dies in diesem Jahr nicht mehr von Relevanz.  Wir bemängeln diese offenkundig ungenügende Recherche, bzw. undifferenzierte Darstellung. Umgang der Polizei und des Redakteurs mit der Sonnenwendfeier werfen dabei vor allem die Frage auf, wie es um das Bewusstsein für Aktivitäten antidemokratischer Akteur*innen und Strukturen in der Region bestellt ist.

Die wahrnehmbare Verharmlosung neu-rechter Strategien und Akteur*innen bereitet uns umso größere Sorge. Das eben dieser Umgang dazu führt, dass solche Feiern sich immer weiter ausbreiten und etablieren, zeigt die Zunahme der Sonnenwendfeiern im Landkreis. Das vor allem in Strahwalde kein abgelegener, unbeobachteter Ort gesucht wurde und die Feier direkt im Ort und nur wenige Meter von den Wohnhäusern entfernt stattfand, zeigt deutlich, dass die Veranstalter*innen sich durch ausbleibende Konsequenzen und fehlgeleitete Toleranz legitimiert sehen. 

Das im Beisein der Polizei oben beschriebene Handlungen begangen und entsprechende Bilder erzeugt werden konnten, war auch durch das fehlende Hintergrundwissen seitens der Beamt*innen zu völkisch-nationalistischer Vereinnahmung solcher Rituale möglich.  Wir erwarten von der Polizei, dass sie sich mit den ideologischen Hintergründen solcher Veranstaltungen und den Gefahren, die von ihnen ausgehen, auseinandersetzt und zu einer eigenen Einschätzung der Sachlage kommt, anstatt sich die Beschwichtigungsversuche der Veranstalter*innen anzueignen und das Problem herunterzuspielen.

Die Verfassungsschutzbehörde sollte überdies nicht nur Informationen sammeln, sondern ihre Erkenntnisse der Öffentlichkeit oder mindestens den politisch Verantwortlichen kommunizieren, damit ein entsprechender Umgang mit solchen Strukturen und Veranstaltungen gefunden werden kann.

Wir erwarten von den Veranstalter*innen, dass sie ihre Behauptung über den unproblematischen Charakter untermauern und den Verdacht ausräumen, dass die Oderwitzer Sonnenwendfeier rechten Netzwerken Anlass und Raum ist, ihre völkische Gesinnung auszuleben und zu verbreiten.

Pressevertreter*innen bitten wir um eine kontinuierliche verantwortungsbewusste Recherche und entsprechend ausgewogene Berichterstattung, die nicht durch Fahrlässigkeit die Dimension des Problems herunterspielt. 

Die Demokratie AG ist ein Netzwerk aus 16 zivilgesellschaftlichen Trägern, die sich gemeinsam schwerpunktmäßig mit bestehenden rechten Strukturen auseinandersetzen, menschenverachtenden Meinungsbildern widersprechen und der Missachtung der Menschenrechte in der Region Ostsachsen entgegentreten. Durch uns werden Bürgerschaft, Zivilgesellschaft, Vertreter*innen der kommunalen Politik über aktuelle Entwicklungen (weiter) aufgeklärt. Wir sind für alle demokratischen Kräfte ansprechbar und wollen diese befähigen, sich aktiv und kritisch mit den genannten Themen zu beschäftigen. Dies gilt auch für Journalist*innen, die über diese Themen in der Region berichten und dabei offene Fragen haben.

Presseberichte (Stand 2. September 2024)

Sonnenwendfeier in Strahwalde mit Nazi-Liedern und SS-Huldigung?, in: Sächsische Zeitung, vom 10. Juli 2024, Titelseite und 13. (online, hinter PayWall).

Wo AfD-Politiker einen SS-Mann ehren, in: taz, vom 12. Juli 2024, 7  (online am 10. Juli 2024).

AfD-Männer gedenken eines SS-Standartenführers, in: Jüdische Allgemeine, vom 11. Juli 2024, (online).

Sonnenwendfeier mit Neonazis: AfD-Politiker unter den Teilnehmern, auf: TAG24, (online am 12. Juli 2024).

Verfassungsschutz: Feier in Strahwalde war rechtsextremistische Veranstaltung, in: Sächsische Zeitung, vom 2. September 2024, (online hinter PayWall)

22. Mai 2024

Statement des feministischen*forums Görlitz und des Frauen.Wahl.LOKALs Oberlausitz

Mehr FLINTA*s in die (Kommunal)Politik!

„Wat die Männer können, können wir schon lange und vielleicht ’ne janze Ecke mehr“ sang Claire Waldoff bereits 1926, nur kurz nach der Einführung des Frauenwahlrechts im Jahre 1918. Bereits damals war klar: Frauen sind im Aufbruch und verlangen ihr Stück vom Kuchen (Himmel). Und heute, im Jahr 2024 und mit den anstehenden Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen, ist das Thema wieder brandaktuell.
Anhaltend sind FLINTA*- Personen in politischen Gremien unterrepräsentiert und werden strukturell daran gehindert ihre Teilhabe an Wahlämtern auszuüben. Die Gründe bleiben vielseitig: Rollenerwartungen, Mehrfachbelastung und patriarchal geprägte politische Kultur. Dabei ist die Perspektive von FLINTA*- Personen unabdinglich, um eine Region lebenswert für alle zu gestalten. Nur mit ihrer Perspektive und Expertise können Themen wie Bildung, Mobilität, Pflege, Digitalisierung und noch viele mehr tatsächlich nachhaltig entwickelt werden.
Darum setzt die Demokratie AG Ostsachsen sich dafür ein, die kandidierenden Frauen bei den anstehenden Wahlen im Landkreis Görlitz zu unterstützen, ruft dazu auf, diese aktiv zu wählen und für mehr Gleichberechtigung und gleiche Teilhabe in unser Region einzustehen.

KEINE 100 Jahre mehr!

Als 1918 das aktive und passive Wahlrecht für Frauen erfolgreich erkämpft wurde, hätte keine der Frauen gedacht, dass ein Jahrhundert später die Geschlechterdiversität in Wahlämtern weiterhin nur geringfügig umgesetzt wurde. Mit der Anerkennung des „diversen“ Geschlechtseintrags wurde es nicht-binären Menschen sogar erst Jahre später, im Jahr 2018 möglich, offiziell von ihrem aktiven Wahlrecht Gebrauch zu machen.
Im Bundestag lag der Anteil von FLINTA (Frauen, Lesben, Inter-, Nicht-binäre, Trans, A-gender)*- Personen historisch maximal bei 36,5 % (2013-2017), aktuell bei 34,8 %, scheint die Grenze von einem Drittel jedoch nicht dauerhaft zu übersteigen. In Sachsen und genauer im Landkreis Görlitz sieht es dabei nicht anders aus – mit einem prozentualen Frauenanteil von 16,3 % im Kreistag liegt der Anteil sogar weit unterhalb des Bundesdurchschnitts. Zudem gibt es weiterhin Gemeinde- und Stadträte im Landkreis, in welchen nicht eine FLINTA*- Person vertreten ist. Um eine tatsächlich freundlichere Politik in Stil, Themen und Ergebnis für Frauen und nicht-binäre Personen zu ermöglichen, sollte eine kritische Masse von mindestens 30 % erreicht werden.

Machen Frauen bessere Politik?
Doch warum sollten FLINTA*-Personen auch vermehrt in der Politik vertreten sein? FLINTA*-Personen sind Besitzer*innen komplexen Sozialwissens in der Lausitz und überall auf der Welt. Bedingt durch eine weiterhin vorherrschende traditionelle Rollenaufteilung und der Übernahme des Hauptteils der Care- und Sorgearbeiten innerhalb unserer Gesellschaft, besitzen FLINTA*- Personen qua Sozialisation und Rolle ein geschlechtsspezifisches Wissen. Sie benutzen vermehrt öffentliche Verkehrsmittel, kümmern sich um schulische und außerschulische Bildung der Kinder, vereinbaren Arzttermine für die ganze Familie. Sie budgetieren, wenn die Haushaltskasse eng wird, engagieren sich in losen Engagementzusammenhängen, nutzen vermehrt kulturelle Angebote und stricken nachhaltige Netzwerke über Generationen hinweg.
Dieses Wissen und diese Perspektive in einem kommunalpolitischen Sinne ungenutzt zu lassen, wäre nicht nur töricht, sondern möglicherweise langfristig fatal für diese Region. Im Sozialen wie auch im wirtschaftlichen Sinne schaffen FLINTA*- Personen in ihren traditionell zugeschriebenen Rollen einen Wert für die Region, welcher schlussendlich für deren Erhalt unabdingbar ist. Diese Perspektive muss somit auch ein den kommunalen Gremien eine mindestens gleichwertige Gewichtung bekommen.
Einerseits, da eine gesamte Bevölkerungsgruppe kaum repräsentiert wird, Vorbilder fehlen und spezifische Perspektiven nicht mit einfließen. Dies hat andererseits zur Auswirkung, dass der Bereich, welcher traditionell FLINTA*- Personen zugeschrieben wird, nämlich die soziale Daseinsvorsorge, katastrophal unterfinanziert und vernachlässigt bleibt. Allein schon deshalb bedarf es einer erhöhten Partizipation von FLINTA*-Personen in kommunalen Ämtern, um den Landkreis Görlitz langfristig für alle lebenswert zu gestalten.

Wir haben strukturelle Probleme!

Es gibt vielerlei Gründe, warum FLINTA*- Personen auf kommunalpolitischer Ebene, wie in allen anderen politischen und gesellschaftlich relevanten Kontexten auf nationaler und globaler Ebene, weniger vertreten sind. Denn die politische Kultur ist anhaltend durch ein patriarchales Dominanzverhalten geprägt, welches eine vermeintlich männliche Rationalität als Maßstab ansetzt. Dort finden andere Perspektiven und Ansätze weiterhin nur wenig Gehör. FLINTA*- Personen sind einer Mehrfachbelastung ausgesetzt und widmen sich neben Lohnarbeit auch dem Großteil der Care- und Pflegearbeit in unserer Gesellschaft. Zudem werden sie von Seiten der Gesellschaft mit einer geschlechtsspezifischen Rollenerwartung konfrontiert. All diese Gründe haben eine Eigenschaft gemein: Sie sind strukturell bedingt.
Personen, die von Geburt an als „weiblich“ gelesen werden und somit mit gesellschaftlichen „Weiblichkeitsanforderungen“ konfrontiert sind, haben es schwerer, in der Politik Fuß zu fassen. Ihnen wird auf Grund des Geschlechts Kompetenz abgesprochen oder durch ihre Sozialisation erst gar nicht nahegelegt, politische Ämter zu erfüllen. Dies ist nur ein Umstand, welcher dazu führt, dass FLINTA*- Personen, im Gegensatz zu „männlich“ sozialisierten Personen, weniger Selbstvertrauen entwickeln und sich somit politische Ämter weniger zutrauen.
Es ist somit nicht verwunderlich, dass wenige Frauen ein politisches Amt anstreben. Genauso wenig verwundert es, dass andere (mehrfach) marginalisierte Personengruppen, wie trans*, inter* oder sich keinem Geschlecht zugehörig fühlende Menschen (TINA*- Personen) oder auch Menschen mit Migrationsgeschichte oder Behinderung, noch weniger in der Politik vertreten sind.

Struktur-Änder-Dich: Unsere Forderungen

Um die (kommunal)politischen Strukturen langfristig freundlicher für FLINTA*- Personen zu gestalten, bedarf es nicht nur individueller Entwicklung jeder einzelnen Kandidierenden, sondern breiter struktureller Veränderungen.
Diese beginnen grundlegend mit paritätischen Wahllisten und geschlechtersensiblen Parteikulturen. Innerhalb (kommunal-)politischer Sitzungen ist Handlungsbedarf im Sinne eines Code of Conduct geboten. Ein sogenannter Verhaltenskodex erscheint allgemein sinnvoll, nur so können alle Menschen von einem wertschätzenden Umgang profitieren. Neben sachlicher, höflicher und konstruktiver Sprache geht es dabei um geschlechtersensible Sprache und um das Weglassen von Sexismen, Rassismen und jeglichen anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Es geht auch um die gewünschte pronominale Anrede der jeweiligen Personen. Denn genau da fängt Gleichberechtigung an.
Ebenso ist ein ausgeglichener Redeanteil aller Anwesenden, bspw. durch eine Redeliste, zu beachten, um zu gewährleisten, dass Sitzungslängen eingehalten und gleichzeitig alle gehört werden.
Der Zugang zu Sitzungen und Gremienarbeit muss niedrigeschwellig und für alle Beteiligten zugänglich gemacht werden. Online-Teilnahme sowie ein Online-Stimmrecht oder die einmalige Übertragung der Stimme per Vollmacht gehören zu den Mindestanforderungen einer digitalisierten Gesellschaft. Ebenso müssen die Zeiten der Sitzungslänge für Mitglieder mit Care-, Pflege- und/oder Erziehungsarbeit angepasst und bestenfalls abgestimmt werden. Wenn dieser Forderung nicht nachgegangen werden kann, braucht es einen angemessenen Ausgleich für die Kinderbetreuung sowie zur Nutzung bereitgestellte Familienzimmer nahe der Sitzungsräume.
Zudem erfährt die meist ehrenamtliche Tätigkeit in der (Kommunal-)Politik wenig Wertschätzung sowie keine Anerkennung der erworbenen Kompetenzen für den weiteren Lohnarbeitsweg. Eine Zertifizierung zur Anerkennung der Leistung, inklusive der Teilnahme an notwendigen Fortbildungen im Rahmen des kommunalen Mandats, sollten gewährleistet sein.

Eine*r mehr von uns! – Ich mach‘s vor – macht ihr‘s nach?

Politik ist immer eine Frage der Machtorganisation und in einer Demokratie liegt die Macht bei den Menschen, die diese gestalten. Wandlungsprozesse werden immer wieder aktiv von Menschen angestoßen und Strukturen von innen heraus bewegt. Wenn eine*r den Anfang macht, können Themen und Perspektiven schnell das Leben aller nachhaltig verändern. Daher müssen FLINTA*- Personen jetzt in die vorherrschenden Systeme rein, um sie langfristig zu funktionalen und gewinnbringenden Strukturen für ALLE umzuwandeln. Vorhandene Strukturen müssen verändert und durchbrochen werden, damit marginalisierte Personen sich untereinander besser unterstützen können. Ressourcen und Kompetenzen müssen geteilt und bereitgestellt werden und marginalisierte Gruppen dürfen nicht allein gelassen werden.

Mit jeder Person, welche für die Perspektiven von marginalisierten Gruppen innerhalb der Politik eintritt, wird die gemeinsame Stimme lauter. Nur so können Perspektiven in Zukunft endlich gehört werden. Diese Personen können zudem Vorbilder sein für andere, die nach ihnen kommen und sich verbünden, sodass sichtbar wird: Nur mit Perspektiven aller, kann eine Politik für alle die Zukunft sein!
Also los jetzt FLINTA*s: Stellt euch auf und lasst euch wählen!

Netzwerke

Quellen

https://www.frauen-in-die-politik.com/news/respektvoller-umgang-in-der-kommunalpolitik-verhaltenskodexe-und-andere-instrumente

https://landesfrauenrat-sachsen.de/wp-content/uploads/2022/10/Massnahmenkatalog_der_Fachkommission_zur_gleichberechtigten_Teilhabe_von_Frauen_an_Wahlaemtern.pdf

Lukoschat, Helga, Köcher, Renate; Parteikulturen und die politische Teilhabe von Frauen; Eine empirische Untersuchung mit Handlungsempfehlungen an die Parteien; EAF Diversity in Leadership; Berlin; 2021.

Lukoschat, Helga, Hempe, Lisa; Frauen macht Berlin! Politische Teilhabe von Frauen in Berlin; Friedrich-Ebert-Stiftung e. V., Berlin; 2022.

Weidhofer, Cécile, Walchshäusl, Dorothea, Friedrich, Sarah; Mit Kind in die Politik; Gute Praktiken für die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und kommunalpolitischem Ehrenamt, EAF Diversitry in Leadership, Berlin, 2023.

Sächsisches Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung, Maßnahmenkatalog der Fachkommission zur gleichberechtigen Teilhabe von Frauen in Wahlämtern, Dresden, 2022.

Haag, Hanna; Kollmorgen, Raj; Demokratie braucht Demokratinnen. Barrieren der politischen Kultur für Frauenkarrieren in Politik und Gewerkschaften – und Ansätze für ihre Veränderung, Friedrich-Ebert-Stiftung e. V., Berlin, 2020.

11. Dezember 2023

Statement grenzwertig desintegrativ 1

Persönlichkeitsrechte

Die Nutzung lokaler Medien kann derzeit etwas verstören. Regelmäßig erfährt man da, dass sich Menschen unter lebensbedrohenden Bedingungen über die Grenzen aus Polen und Tschechien nach Deutschland begeben. Die Menschen, die dies tun, haben lange Wege hinter sich. Mitunter sind sie tagelang ohne Essen, zusammengepfercht in völlig überladenen Transportern unterwegs, bevor sie in unserer Region eintreffen und sich angekommen wähnen auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben mit einem gewissen Maß an Ordnung, Sicherheit und Freiheit. Die Schicksale dieser Menschen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen sie fliehen, die extremen Strapazen, die sie dafür auf sich nehmen, werden hier zu wenig thematisiert. Migration ist zu einem Kampfbegriff geworden, der Diskurs darüber ist stark polarisiert. Worüber jedoch Einigkeit bestehen sollte, sind Anstand und Humanität.
 
Doch gerade da kommt der Journalismus als prägender Diskursteilnehmer inzwischen immer mehr ins Straucheln. Welchen journalistischen Mehrwert bietet denn ein Bild aus dem Laderaum eines Transportfahrzeugs? Was illustriert ein Foto einer Personengruppe nach dem Aufgriff durch die Bundespolizei? Einige Bilder wurden nur oberflächlich oder teilweise auch gar nicht anonymisiert. Das wirft die Frage auf, wo die Persönlichkeitsrechte dieser Menschen bleiben? Und, warum finden solche Bilder überhaupt immer wieder ihren Weg in die Lokalpresse? Beispiele für diese Praxis finden sich in den letzten Monaten immer wieder (s. Belegliste unten).
 
Als Demokratie AG Ostsachsen kritisieren wir diese entwürdigende Praxis entschieden. Gegenüber dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit, dem die Presse zu entsprechen hat, überwiegen hier eindeutig die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen. Für die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung solcher Bilder unbekannten Personen, die aus Diktaturen, vor Krieg, Verfolgung und Gewalt fliehen, besteht unter Umständen Gefahr für Leib und Leben. Die Darstellung von geflüchteten Personen mit oder ohne direkten Themenbezug ist überdies nichts, was in irgendeiner Art und Weise zur Informationsweitergabe beiträgt. (Ohne direkten Themenbezug meint hier die bildliche Darstellung von geflüchteten Personen nach dem Aufgreifen der Bundespolizei in Artikeln, die sich beispielsweise mit Sozialleistungen für Geflüchtete beschäftigen (siehe Artikel 2), mit dem Aufgreifen an sich aber nichts zu tun haben).
 
Im Gegenteil werden die extremen Umstände der Flucht als Medienspektakel inszeniert. Im Tenor eines „schon wieder“ werden die Berichte vor allem auf die Zahl der Menschen und die Häufigkeit der Einschleusung zugespitzt. Dabei wird weniger das Elend der geflüchteten Personen zu Bewusstsein gebracht. Die Publikation von (kaum oder gar nicht anonymisierten) Fotos aus dem Moment, da Geflüchtete durch die Bundespolizei aufgegriffen werden, bewerten wir viel mehr als Beitrag zur Stimmungsmache gegen geflüchtete Menschen. 
Eine Darstellung des problematischen Aktes der Schleusung unter menschenunwürdigen Bedingungen darf nicht zu Lasten der Persönlichkeitsrechten von Betroffenen erfolgen. Als Grundpfeiler der Demokratie und unseres demokratischen Miteinanders sollten Medien sich nicht den gleichen emotionalisierenden Werkzeugen bedienen, wie antidemokratische populistische Strömungen. Durch eben jene Bebilderung von Artikeln werden  aber Überfremdungsängste geschürt werden und ankommende Menschen von vorn herein in einen Problemkontext gesetzt. Der Fokus bei der Informationsvermittlung sollte jedoch auf sachlicher Analyse und der Erläuterung von Fluchthintergründen liegen. 
 
Anhang Artikel zu Geflüchteten mit Bildern:
(bis Mitte September)
 

Statement zur Sondersitzung des Kreistags in Görlitz am 18.04.2023

Was ist der Mensch (noch) wert?

Wenn es nach vielen Meinungen der letzten Sondersitzung des Kreistages geht, fällt die Antwort erschreckenderweise wohl „sehr wenig“ aus.

Das wollen wir als Verteter*innen der Demokratie AG Ostsachsen so nicht hinnehmen.

Auch wenn Freie Sachsen, Anhänger*innen von AfD und Querdenker*innen sich lautstärkemäßig gefühlt in der Mehrheit befanden, möchten wir an ein demokratisches Miteinander appellieren und keine Grenzen zwischen Herkunft oder Hautfarbe ziehen.

Es darf auch nicht um ein Ausspielen oder gar Bevorzugen von Menschen aus der Ukraine gegenüber anderen Geflüchteten gehen.

Es ist die Aufgabe von politischen Vertreter*innen sowie der Zivilgesellschaft, dieses Bild gerade zu rücken und sich nicht selbst als betroffene Person zu deklarieren. Falschmeldungen wie letzte Woche, Populismus und ein Verdrehen der Zahlen darf nicht unkommentiert stehen bleiben.

Alle Menschen, egal ob Alleinreisende, Familien oder Kinder sollen gleichermaßen in Städten oder Landkreisen willkommen sein und sich sicherer als in ihrem Herkunftsland fühlen.

Natürlich kann man über den Standort streiten und diskutieren und die Frage stellen, ob dieser für die Geflüchteten geeignet ist. Dabei wünschen wir uns eine zivilisierte Streitkultur, in der belastbare Argumente ausgetauscht werden und miteinander tragbare Lösungen für alle Seiten gefunden werden.

Wir danken allen, die sich für einen offenes, buntes und tolerantes Sachsen aussprechen und aktiv Haltung bekennen!

Demokratie AG Ostsachsen

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